Kuration und Ausstellungsgestaltung für den Designpreis Halle 2017

Zeit­stopp

Der Design­preis Halle 2017 hat­te »Zeit« zum The­ma. Vor diesem Hin­ter­grund wur­den Entwürfe aus aller Welt gesucht, die den Umgang mit der kost­baren Ressource Zeit auf gesellschaft­skri­tis­che, erzäh­lerische, poet­is­che, sen­suelle, funk­tionale oder auch humor­volle Weise behandeln. 

»Es ist Zeit, dass es Zeit wird.« Paul Celan, aus dem Gedicht Coro­na

Einst struk­turi­erten beständig wiederkehrende Phänomene, wie der Ver­lauf der Jahreszeit­en, der Wech­sel von Tag und Nacht oder Ebbe und Flut, den Leben­srhyth­mus und das per­sön­liche Zeit­empfind­en des Men­schen. An die Stelle dieser natür­lichen Abläufe trat­en jedoch mehr und mehr ide­ale Maßsys­teme wie Kalen­der, Pläne und Uhren. Sie regle­men­tierten und leit­eten das Zeitver­ständ­nis, steuerten den beschle­u­nigten Takt der Indus­tri­al­isierung. Die Ver­wand­lung dieser Sys­teme in ver­net­zte dig­i­tale Struk­turen prägt ein neues, stärk­er fließen­des Zeit­be­wusst­sein aus.

Beschle­u­ni­gung und effek­tives Zeit­man­age­ment spie­len in zahlre­ichen Wirtschaft­szweigen, etwa im Finanz‑, Kommunikations‑, Trans­port- und Verkehr­swe­sen, eine immer größere Rolle. Gle­ichzeit­ig aber wächst bei vie­len Men­schen das Bedürf­nis nach bewusst inte­gri­erten Ruhe- und Erhol­ungsphasen während der Arbeit­szeit, nach selb­st bes­timmten Zeiträu­men, die jed­er für sich, mit der Fam­i­lie oder mit Fre­un­den ver­brin­gen möchte. So zählt Zeit mit­tler­weile zu einem der knapp­sten und wertvoll­sten imma­teriellen Güter. Zugle­ich verbinden wir Zeit mit konkreten Gegen­stän­den und Räu­men, die für uns zu Trägern der Erin­nerung wer­den kön­nen. Wenn wir Dinge erneuern oder uns von ihnen tren­nen, kann dies sowohl in einen Prozess der Verge­gen­wär­ti­gung als auch
des Vergessens münden.

Vor diesem Hin­ter­grund wur­den für den Design­preis Halle 2017 Entwürfe aus aller Welt gesucht, die den Umgang mit der kost­baren Ressource Zeit auf gesellschaft­skri­tis­che, erzäh­lerische, poet­is­che, sen­suelle, funk­tionale oder auch humor­volle Weise behandeln.

Ins­ge­samt 375 Arbeit­en aus 31 Län­dern erre­icht­en Halle, darunter Ein­sendun­gen aus dem Iran, aus Israel, Kuba, Mexiko, Bel­gien, den Nieder­lan­den, den Vere­inigten Staat­en und Rus­s­land. Damit gin­gen für die vierte Aus­gabe des Wet­tbe­werbs die bis­lang meis­ten Bewer­bun­gen in der Geschichte des Preis­es ein.

Entsprechend zum Wet­tbe­werb­s­the­ma Zeit fand der Design­preis Halle in der ehe­ma­li­gen Physikalis­chen Chemie der Mar­tin-Luther-Uni­ver­sität Halle-Wit­ten­berg statt. Im kleinen Rund des ele­gant geschwun­genen Trep­pen­haus­es, dem Dreh- und Angelpunkt des Gebäudes, erhielt eine Mas­terkopie der als ältester Kalen­der der Welt gel­tenden Him­melss­cheibe von Nebra ihren Platz und stellte bere­its am Ein­gang einen the­ma­tisch-passenden und regionalen Bezug zum Wet­tbe­werb her.

Das darüber befind­liche Großraum­la­bor bot einen sehr geeigneten Platz für die Präsen­ta­tion der fün­fzehn nominierten Arbeit­en – gle­ich­sam wie exper­i­mentelle Ver­such­sauf­baut­en in gleißen­des Licht getaucht. Dafür wurde die Räum­lichkeit samt Mobil­iar so belassen,
wie man sie vor Jahren ver­lassen hat­te, und einzig darin alles mit ein­er feinen weißen Farb­schicht über­zo­gen. So »ein­tönig« gestal­tet, blieb die Atmo­sphäre und His­to­rie des Ortes wie »kon­serviert« im Hin­ter­grund erhal­ten, während die zeit­genös­sis­chen far­bigen Desig­nob­jek­te gle­ichzeit­ig umso stärk­er zur Gel­tung kamen.

Es schien ein wenig so, als stünde hier für die Dauer der Ausstel­lung die Zeit eine zeit­lang extra still, als sei alles um die her­aus­geputzten Exponate herum in eine Art Dorn­röschen­schlaf gesunken. Diese »einge­frorene« Laborszener­ie passt zum kreativ­en Meti­er, spielt doch das Exper­i­men­tieren, Aus­pro­bieren und Forschen im Gestal­tung­sprozess eine zen­trale Rolle.

Mit einem Old­timer-Omnibus gelangten alle Nominierten zur Eröff­nungsver­anstal­tung und fühlten sich für einen Moment lang in eine andere Zeit zurück­ver­set­zt. Anstatt eines klas­sis­chen roten Tep­pichs leit­ete eine sauber gekärcherte und von Unkraut befre­ite Wegschneise die Gäste von der Straße in das heute brach­liegende Gebäude. Dieser deut­lich sicht­bare und zeitaufwändi­ge Ein­griff in die bere­its wild-wuch­ernde Veg­e­ta­tions­decke wies ganz expliz­it auf die Hil­febedürftigkeit des Gelän­des hin.

Da sich der Hör­saal in der Physikalis­chen Chemie für die Preisver­lei­hung als zu klein erwies, fand diese zeit­gle­ich auch im Audi­to­ri­um des angren­zen­den natur­wis­senschaftlichen Samm­lungs­ge­bäudes statt.
Um die Syn­chronität der Ereignisse zu ermöglichen, wur­den einige Red­ner von Schaus­piel­ern der Oper Halle gedoubelt und macht­en so den Abend für alle Anwe­senden zu einem äußerst amüsan­ten und ein­ma­li­gen Erlebnis.

Ein die Ausstel­lung beglei­t­en­des Rah­men­pro­gramm, in dem unter anderem emer­i­tierte Pro­fes­soren als Zeitzeu­gen Führun­gen durch ihr ehe­ma­liges Insti­tut gaben, war ein großer Erfolg. Viele Hal­lenser nutzten diese Gele­gen­heit, um sich das son­st ver­schlossene Bau­denkmal ein­mal etwas näher anzuschauen. Des Weit­eren informierte eine kleine Kabi­net­tausstel­lung in den großen gläser­nen Abzugsk­abi­nen die Besuch­er über die Entste­hungs­geschichte der Architek­tur.
Der gewählte Ver­anstal­tung­sort, an dem der »Zahn der Zeit« bere­its kräftig zu nagen begonnen hat, ist eng mit den Natur­wis­senschaft-lichen Samm­lun­gen der Mar­tin-Luther-Uni­ver­sität Halle-Wit­ten­berg am Dom­platz 4 ver­bun­den. Die örtliche Nähe und gute Nach­barschaft der bei­den Gebäudekom­plexe kon­nte neben der Preisver­lei­hung zusät­zlich durch die Illu­minierung einiger Tier­prä­parate in den Fen­stern der Zool­o­gis­chen Samm­lung ein­drucksvoll sicht- und erleb­bar gemacht werden.

Zu wün­schen wäre, dass dieses seit Jahren ungenutzte Are­al und leer­ste­hende Objekt zukün­ftig für eine pos­i­tive Samm­lungs-entwick­lung der Uni­ver­sität mit Flächen für weit­ere Uni­ver­sitätssamm­lun­gen sowie für den Wis­senstrans­fer durch Son­der­ausstel­lun­gen und Muse­um­späd­a­gogik zur Ver­fü­gung stände.

2014 brachte die Ver­lei­hung des Preis­es zum The­ma Wass­er im his­torischen, 1916 erbaut­en Stadt­bad einen neuen mil­lio­nen­schw­eren Schwung in die Sanierung des Gebäudes. Und auch 2007 führte die Inter­ven­tion des Design­preis Halle zum The­ma Strom im baufäl­li­gen ehe­ma­li­gen Umspan­nwerk am Hall­markt zur Reak­tivierung und Umnutzung des Ortes und ver­mochte zusät­zlich, dem zuvor unbelebten Platz wieder mehr Vital­ität und Urban­ität einzuhauchen.

Als Kura­tor freut es mich ganz beson­ders, dass mein seit nun­mehr zehn Jahren ver­fol­gtes Anliegen, mit diesem Design­preis und den the­men­be­zo­ge­nen Insze­nierun­gen zugle­ich auch ver­nach­läs­sigte Bau­denkmäler in der Stadt wiederzubeleben und damit poten­tielle Inve­storen anzu­lock­en, aufge­gan­gen ist und solch pos­i­tive Entwick­lun­gen in der Stadt in Gang geset­zt hat. Bleibt dies auch für die Physikalis­che Chemie zu hof­fen – es wird aller­höch­ste Zeit!

Jahr:2017
The­ma:Zeit
Kura­tion und Ausstellungsgestaltung: Vin­cenz Warnke